Autismus und Pseudomedizin

[Dieser Text ist ursprünglich in der Zeitschrift „Der Skeptiker“ in der Ausgabe 3/2013 erschienen. Er beruht auf einem Vortrag, den ich auf der Skepkon in Köln 2013 gehalten habe.]

Einleitung

Symptome

Entstehung

Diagnostik

Therapie

KISS-Syndrom

CEASE-Therapie

Antibiotika gegen Autismus

Schluss

Literatur und Qellen

Einleitung

Wenige Menschen kennen sich mit Autismus aus, sehr wenige gut. Die Darstellung von Menschen mit Autismus in den Medien zeigt oft ein verzerrtes Bild, weil sie sich auf Betroffene mit durchschnittlicher oder überdurchschnittlicher Intelligenz, sogenannte „hochfunktionale Autisten“, konzentriert. Bisweilen drängt sich sogar der falsche Eindruck auf, Autismus sei eine „Edelbehinderung”. Bei Autismus handelt es sich um eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, wobei der Anteil der „hochfunktionalen Autisten“ relativ gering ist. Weil die Bandbreite von leichten, subklinischen Formen bis zu schweren Beeinträchtigungen reicht, ist es richtiger, von Autismusspektrumsstörung (ASS) zu sprechen.

Symptome

ASS zeichnen sich durch qualitative Unterschiede in der Kommunikation, und der sozialen Interaktion sowie durch die Neigung zu wiederholten und stereotypem Verhalten aus. Achtet man einmal darauf, wie vielschichtig die Bedeutung von Worten ist, die wir benutzen, und wie unscharf wir zum Teil mit Sprache umgehen, ist es fast ein Wunder, dass wir uns überhaupt verstehen. Menschen mit ASS haben mit dieser Unschärfe Probleme. Sie denken oft konkretistisch und haften an der wörtlichen Bedeutung von Worten, können den übertragenen Sinn dahinter nicht erkennen. Besonders fällt das bei Sprichwörtern und Redewendungen auf, wie zum Beispiel „jemanden auf den Arm nehmen“.

Soziale Interaktion, so leicht sie uns oft fällt, ist eine komplexe Tätigkeit, die viel implizites Wissen und intuitives Handeln erfordert. So begreifen wir zum Beispiel schon früh im Leben, dass, wenn jemand mit dem Finger auf ein Objekt zeigt, das entfernte Objekt von Interesse ist, und nicht die Fingerspitze. Dafür müssen wir nicht nur die Bedeutung dieser Geste kennen, wir müssen uns auch in den anderen hineinversetzen und die Intention hinter der Geste erkennen. Dieses Hineinversetzen ist Kernbestandteil der „Theory of Mind“ (ToM) und bildet sich in den ersten Lebensjahren eines Menschen aus. Kinder unter vier Jahren können sich noch nicht vorstellen, dass eine andere Person einen anderen Wunsch haben könnte als sie selbst. Auch Menschen mit ASS haben Probleme mit der ToM. Es fällt ihnen schwer, zwischen sich und anderen zu trennen. Besonders auffällig ist oft die Weigerung von betroffenen Kindern Blickkontakt zu halten, also anderen Menschen in die Augen zu sehen. Häufig zeigen sie auch kein erkennbares Interesse an Mama und Papa; wie belastend solch eine Situation ist, können sich vermutlich nicht nur Eltern vorstellen.

Viele Kinder mit einer ASS neigen zu stundenlanger Beschäftigung mit sich wiederholenden Tätigkeiten. Sie drehen beispielsweise das Rad eines Spielzeugautos oder bewegen die Finger direkt vor den Augen und schauen sie intensiv an. Viele Kinder haben auch ein Sonderinteresse: etwas, mit dem sie sich sehr gut auskennen, mit dem sie sich am liebsten ausschließlich beschäftigen wollen, und worüber sie ausgiebig reden. Nicht selten entwickeln sie auf diesem Gebiet Fähigkeiten, die ihnen in anderen Bereichen fehlen. So können zum Beispiel einige Kinder ganze Nahverkehrsfahrpläne auswendig lernen, sind jedoch nur schwer dazu zu bringen, Vokabeln zu lernen. Den letzten Punkt können wahrscheinlich Eltern am besten nachvollziehen, man muss sich nur vorstellen, das ganze Jahr wäre wie die Woche nach Weih-nachten, in der man mehr mit dem neuen Spielzeug spielt als im Rest des Jahres. Alles andere verblasst daneben. Auch ist die Fähigkeit weniger ausgeprägt, in der einen Situation Gelerntes auf eine andere zu übertragen. Für Eltern kann das bedeuten, dass ihr Kind sich zu Hause die Jacke alleine anziehen kann, im Kindergarten jedoch nicht. Das Kind bittet dann jedoch nicht um Hilfe, denn auch dieses Konzept muss erst mühevoll erlernt werden. Solche Situationen werden für Eltern oft zur Geduldsprobe.

Entstehung

Die genaue Entstehung von Autismus ist heute noch nicht bekannt. Doch seit der Erstbeschreibung sind viele Hinweise auf eine starke genetische Komponente zusammengekommen (Freitag 2012). Umweltfaktoren spielen ebenfalls eine Rolle, jedoch wahrscheinlich in geringerem Maße. Die frühe Entwicklung des Kindes erscheint häufig relativ „normal“. Auffälligkeiten zeigen sich sehr dezent, erstes Anzeichen ist oft eine mangelnde Sprachentwicklung. Das vermeintlich „plötzliche“ Auftreten der Symptome kann dazu führen, dass diese mit einem besonderen Ereignis in Verbindung gebracht werden, welches in der Vergangenheit stattgefunden hat. Das ist wahrscheinlich ein Grund, warum sich der Mythos vom Zusammenhang zwischen Autismus und Impfen so hartnäckig hält, obwohl er seit Jahren widerlegt ist (Offit 2008). Von Anhängern der „Impfthese“ wird die steigende Prävalenz von ASS als Argument gegen eine genetische Beteiligung vorgebracht.

Dieser Anstieg lässt sich jedoch teilweise durch eine Änderung von Diagnosekriterien erklären, nach der Patienten mit „Asperger-Syndrom“ den ASS zugerechnet werden (Freitag 2012). Außerdem waren ASS in der Vergangenheit wahrscheinlich unterdiagnostiziert, während Ärzte heute bei entsprechenden Symptomen eher an eine ASS denken. In Gegenden mit steigender ASS-Prävalenz sinkt im gleichen Maße die Häufigkeit anderer (diagnostizierter) Behinderungen (King 2009). Belastung Da eine ASS in der Kindheit beginnt, kommt es in sehr vielen Fällen im Laufe der Entwicklung zu einer, teils von der Förderung abhängigen, Besserung der Symptome. Viele Kinder, die bis ins Kleinkindalter keine Lautsprache zeigen, beginnen später doch zu sprechen. Auch hier zeigt sich ein Spektrum in der Ausprägung, vom Ausbleiben der Sprache bis zu kaum merklichen, nur noch mit Erfahrung erkennbaren Unterschieden in der Kommunikation. Wenn ein Kind plötzlich beginnt zu sprechen, ist das natürlich eine große Freude für die Eltern, doch leider bedeutet es nicht, dass das Kind geheilt wäre.

Diagnostik

Der Begriff „Spektrum“ macht deutlich, dass nicht alle Symptome bei jedem Menschen mit Autismus in gleichem Maße vorkommen. Er zeigt auch, dass die Grenze zwischen gesund und krank nicht immer ganz einfach zu ziehen ist. Gerade bei der Beurteilung von Menschen mit guten kognitiven Fähigkeiten (hochfunktionaler Autismus) ist dies der Fall. Dies ist einer der Gründe, warum die Diagnosestellung bei Autismus alles andere als trivial ist. An der Autismusambulanz Dresden sind zwischen 5 und 8 Termine á 1–2 Stunden nötig, in unklaren Fällen gefolgt von einer Hospitation in Schule und Kindergarten oder der langfristigen Teilnahme an Gruppenangeboten, um das Kind in einer weniger künstlichen Umgebung zu erleben. Wenn behauptet wird, ein Kind mit Autismus sei geheilt worden, sollte man die Möglichkeit einer falsch positiven Diagnose mindestens in Betracht ziehen.

Therapie

Eine Heilung gibt es bis heute nicht. Dennoch bestehen Möglichkeiten, Kindern und Eltern das Leben zu erleichtern und gemeinsam viel zu erreichen. Ziel ist dabei immer das höchstmögliche Maß an Selbständigkeit zu erreichen, wozu in der Regel Methoden der Verhaltenstherapie und externe Strukturierung dienen. Die intensivste Methode ist Applied Behaviour Analysis (ABA), bei der erwünschte (kommunikative) Handlungen der Kinder verstärkt werden. Die Vorgehensweise ist sehr kleinschrittig mit vielen Wiederholungen, der Umfang kann bis zu 40 Stunden wöchentlich betragen. Weiterhin gibt es Methoden der unterstützten Kommunikation (nicht zu verwechseln mit gestützter Kommunikation ). Dabei liegt ein Schwerpunkt darauf, den Kindern eine Möglichkeit zu geben, mit der Umwelt zu kommunizieren. Um auf die verschiedenen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Kinder einzugehen, wurden zahlreiche Techniken entwickelt, beispielsweise das Picture Exchange Communication System (PECS), welches ohne gesprochene Sprache funktioniert, jedoch auf deren Entwicklung nicht bremsend wirkt. Obgleich Autismus nicht heilbar ist, existieren dennoch Hinweise darauf, dass eine Untergruppe Betroffener mit guten kognitiven Fähigkeiten aus dem Autismusspektrum „herauswachsen“ kann (Fein et al. 2013). Wahrscheinlich sind in diesen Fällen die Symptome so gut kompensiert, dass die Betroffenen keine Auffälligkeiten mehr zeigen. Die evidenzbasierte Autismustherapie ist ein mühevoller und wenig glamouröser Weg, doch seine Wirksamkeit ist belegt. Ganz im Gegensatz zu den im Folgenden diskutierten Methoden.

Im deutschsprachigen Raum gibt es wenig Forschung zur Verbreitung von „Alternativ“-Medizin im Allgemeinen und bei Autismus im Speziellen. Da die Ansätze und Methoden so vielfältig sind wie die Anbieter fantasievoll, kann im begrenzten Rahmen dieses Artikels nur auf die folgende Auswahl eingegangen werden: Das Kiss-Syndrom ist eine beliebte Diagnose von osteopathisch orientierten Therapeuten, die Behandlung erfolgt u.a. mittels craniosakraler Therapie. Ein Homöopath hat sich ebenfalls des Autismus angenommen und eine komplette Therapieform entwickelt, die CEASE-Therapie: sanft, ganzheitlich und ohne Fundament in der Realität. Auch ein Nobelpreisträger für Physiologie und Medizin spielt in der Szene eine prominente und unrühmliche Rolle, seine Idee für eine Therapie hat das Potential, direkten Schaden anzurichten.

KISS-Syndrom

Als Beispiel für Disease Mongering (Krankheitserfindung) eignet sich die Kopfgelenkinduzierte Symmetrie-Störung oder das KISS-Syndrom, die erste Krankheit, die nicht weiß ob sie eine Störung oder ein Syndrom ist. Eine Störung beschreibt eine erhebliche Abweichung im Erleben oder Verhalten, während bei einem Syndrom gleichzeitig verschiedene Krankheitszeichen vorliegen, deren ursächlicher Zusammenhang, die Entstehung und Entwicklung der Krankheit, jedoch nicht bekannt sind. Das KISS – Syndrom wurde von Gutmann 1953 als „Säuglingsskoliose“ beschrieben1 (Hülse 2005). Beim KISS-Syndrom sollen die ersten Wirbel der Halswirbelsäule irgendwie nicht an der richtigen Stelle oder in der richtigen Stellung sein. „Blockiert“ nennen das die „Experten“. Als Leser des Skeptikers weiß man, was alles blockiert sein kann: Gelenke, Energien, Reinkarnation, eigentlich alles. Zwar kann kaum jemand plausibel erklären, worum genau es sich bei diesen Blockaden handelt; sie zu therapieren ist jedoch kein Problem. Wenn man liest, welche Folgen das

„KISS-Syndrom“ angeblich haben kann2, scheint die Behandlung für verantwortungsvolle Eltern Pflicht. Es heißt, dass viele „Schreibabys“ unter dem KISS-Syndrom litten, daraus könnten Probleme beim Stillen (inklusive Brustentzündung), ein platter Hinterkopf und motorische Entwicklungsstörungen entstehen. Doch damit nicht genug. Aus einem unbehandelten KISS-Syndrom entwickle sich das KIDD-Syndrom, die „Kopfgelenk induzierte Dysgnosie und Dyspraxie“, und die Folgen lassen staunen: „ADS, ADHS, ADHDS (sic!), Lern- und Konzentrationsstörungen, Dyslexie, Dyskalkulie, Kopfschmerzen, Migräne, Rücken- und Knieschmerzen, Störungen der Feinmotorik und Grobmotorik, Emotionsstörungen, Hyperkinesie, Hyperaktivität (Zappelphilipp), Hypoaktivität (Träumsuse), Schlafstörungen, Bettnässen“. Anatomisch und physiologisch ist es wenig plausibel, all dies auf eine „Blockade“ der oberen Halswirbel zurückzuführen. Wenn sich Wirbel gegeneinander physisch verschieben (einige Eltern berichteten von Verschiebungen um 1 cm) dürfte es statt zu Hyperaktivität zu Lähmungen und Tod kommen.

Die Gesellschaft für Neuropädiatrie e.V. hat in einer Stellungnahme das Konzept von KISS und KIDD angezweifelt.3 Darin wird unter anderem dargelegt, dass die als Beweis für die Existenz und Behandlungswürdigkeit des KISS-Syndroms angeführte „Fehlhaltung“, welche sich bei einem Drittel aller Säuglinge zeigte, bei allen Kindern nach dem 18. Lebensmonat (wenn die allermeisten laufen können) deutlich besserte – ohne Therapie. Bis heute konnten KISS/KIDD nicht nachgewiesen werden, geschweige denn ein Zusammenhang zwischen KISS/KIDD und Entwicklungsstörungen. Wenn Eltern ihrem Kinderarzt besorgt berichten, dass ihr Kind viel schreie, hören sie oft, es gebe eben Kinder die viel schreien, das sei normal und würde bald aufhören. In dieser Situation fühlen sich viele Eltern mit ihren Sorgen nicht ernst genommen (immerhin muss der Kinderarzt nicht alle 30 Minuten in der Nacht aufstehen um ein schreiendes Kind zu beruhigen). Einige von ihnen landen irgendwann bei einem Experten und der hat die Diagnose: KISS-Syndrom, ganz klar! Eine Blockade im Halswirbel kann man röntgen und behandeln, chiropraktisch oder craniosacral, kommt ganz darauf an. Bisher habe ich noch niemanden getroffen, der sich gewundert hätte, dass ein Kind trotz behandeltem KISS-Syndrom Symptome einer ASS zeigt. Die Eltern haben je- doch eine unmittelbare Erklärung für das Schreien ihres Kindes, mag es auch eine falsche sein; eine Behandlung, sei sie auch unplausibel, und vor allem einen verständnisvollen Therapeuten. Den Rest erledigen Placebo-Effekte, die Regression zur Mitte und die normale Entwicklung des Kindes.

CEASE

Mit CEASE hat uns der Homöopath und Arzt Tinus Smits die in ihrer komplexen Schlichtheit eleganteste Pseudotherapie für Autismus entwickelt. CEASE steht für „Complete Elimination of Autism Spectrum Effects“ ein ziemlich mutiger Name, denn hier wird Heilung versprochen, wo es keine gibt. Smits gibt in seinem Buch „Beyond Autism“ an, er habe bereits mehr als 300 Fälle von Autismus geheilt. Und das, obwohl er hohe Maßstäbe an sich setzt. In „Autism Beyond Despair“ (Smits 2010) erwähnt er an vielen Stellen, die Heilung eines Kindes sei ihm noch nicht vollständig gelungen, und er beschreibt, wie er auch noch die letzte Verhaltensauffälligkeit wegtherapiert.

Im Falle von CEASE dient Homöopathie nicht nur der Therapie, sondern auch der Diagnostik. Nach einer Anamnese von beliebigem Umfang beginnt Smits mit der „Entgiftung“ der von ihm für den größten Schaden verantwortlich gemachten Noxe (Schadstoff im weiteren Sinn).

Der Schaden besteht, wenig überraschend, in blockierter Energie. Smits hält ASS für das Resultat von Energieblockaden, welche auch aus einem Mangel an Inkarnation (!) resultieren können. Meist sind eine oder mehrere Impfungen verantwortlich, der Impfstoff wird homöopathisch potenziert und in steigender Potenz verabreicht. Dieses Verfahren nennt sich Isopathie, weil als Heilmittel der „Schadstoff“ selbst genommen wird. Stellt sich nach Wochen oder Monaten keine Besserung ein, war die potenzierte Noxe nicht der Auslöser, und der Therapeut nimmt sich der nächsten möglicherweise verantwortlichen Noxe an. Da es auch Fälle von ungeimpften Kindern gibt, geht Smits davon aus, dass Autismus durch mehrere Faktoren hervorgerufen wird. Stellt sich keine Besserung ein, war diese Noxe nicht der Auslöser und es wird das nächste Mittel probiert. An dieser Stelle spielen dem Therapeuten zwei Dinge in die Hand: Zum einen die Zeit. Viele Eltern gehen Monate und Jahre von Anlaufstelle zu Anlaufstelle, bevor die Diagnose gestellt wird. Je später man beim CEASE-Therapeuten landet, desto höher die Chance einer Besserung in der Zeit der Therapie. Kommt es nicht gleich zur Besserung, bleiben viele Noxen übrig, an denen man jahrelang herumprobieren kann. Smits hat mit dieser Methode u.a. folgende Stoffe ausgemacht, die Autismus (mit-)verursachen können:

  • Impfstoffe,
  • Antibiotika in der Schwangerschaft (eigentlich jedes Medikament in der Schwangerschaft),
  • Narkosemittel unter der Geburt,
  • Lokalanästhesie,
  • Nasentropfen,
  • Milch (in Plastikflaschen in der Mikrowelle erwärmt).

Wie mögen Eltern sich fühlen, wenn ihnen im Rahmen von CEASE eröffnet wird, durch welche Dinge sie ihrem Kind geschadet haben sollen?

Sollten nach der Isotherapie noch Symptome bleiben, die der CEASE-Therapeut für behandlungswürdig hält, geht er zur „Inspirational Homeopathy“ über. Auch diese Methode ist eine Erfindung von Smits. Der Mensch wird dabei gesehen wie eine Zwiebel, mit einzelnen Symptom-Schichten, die von bestimmten Homöopathika abgetragen werden, bis man an den Kern gelangt.Die Reihenfolge ist immer gleich. Nur die äußerste Symptomschicht ist der klassischen Homöopathie nach Hahnemann mit ihrer individuellen Mittelwahl zugänglich. Während der gesamten Therapie werden Vitamine und andere Substanzen der orthomolekularen Medizin, sogenannte Vitalstoffe (Vitamine, Mineralien und Omega-Fettsäuren), in recht hoher Dosierung angewendet, um die Heilung und Detoxifikation zu unterstützen. Kernthese der orthomolekularen Medizin ist die Schädlichkeit freier Radikaler, welche durch Radikalfänger (Antioxidantien) neutralisiert werden. Mittlerweile ist die Sicht auf freie Radikale jedoch deutlich differenzierter, als Vertreter der Methode es darstellen.4

Es gäbe durchaus einen Mechanismus, über den die CEASE-Therapie einen positiven Effekt für die Kinder haben könnte. Durch die regelmäßige Einnahme von verschiedenen Mittelchen könnten die Familien den Tagesablauf gut strukturieren. Menschen mit Autismus werden durch regelmäßig und verlässlich geschehende Dinge in einem Maße beruhigt, wie es für neurotypische Menschen schwer vorstellbar ist; jede Form von Ritual ist besser als Unsicherheit. Deshalb könnte allein schon die Tagesstruktur zu einer Besserung führen.

Smits arbeitet mit Potenzen weit jenseits von C30. Auch C1000 wird regelmäßig eingesetzt, eines seiner liebsten Mittel war seine eigene Idee: Saccharum officinale. Das ist nichts anderes als Haushaltszucker (Saccharose), der Grundstoff, aus dem heute die meisten Globuli hergestellt werden.

Antibiotika gegen Autismus

Die mögliche Verbindung zwischen Autismus und dem kindlichen Verdauungstrakt wurde Ende der 90er von Andrew Wake- field einem breiten Publikum vermittelt. Bekanntheit erlangte Wakefield mit der Behauptung, die Masern-Mumps-Röteln- Impfung sei für viele Fälle von ASS verantwortlich. Diese Aussage stützte er auf einer Studie, in der er bei mehreren Kindern mit ASS während einer Darmspiegelung Proben aus dem Darm entnommen und dort entzündete Lymphknoten gefunden hatte.5 Oder dies zumindest behauptet, denn in einem Gerichtsprozess in den USA sagte ein ehemaliger Labormitarbeiter Wakefields aus, er habe bei allen untersuchten Proben keine Auffälligkeiten gesehen und dieses Wakefield auch mitgeteilt.

Nicht nur aus diesem Grund ist Wakefields Reputation erheblich angekratzt. So erhielt er 800000 $ vom Anwalt einer Elterngruppe, die versuchte, die ASS ihrer Kinder als Impfschaden anerkennen zu lassen. Das Geld stammte aus Prozesskostenhilfe. Ferner verschwieg Wakefield bei der Veröffentlichung seiner Ergebnisse, dass er ein Patent für einen Maserneinzelimpfstoff besaß. Als diese und andere Fakten ans Tageslicht kamen, distanzierten sich die Mitautoren des Papers von der Publikation. Das Paper wurde zurückgezogen und Wakefield verlor seine Zulassung als Arzt. In der Gemeinde der Impfgegner gilt er bis heute als Held. Doch die Idee, der Darm könnte etwas mit ASS zu tun haben, wurde auch von anderer Seite verfolgt. Nachdem einem Kleinkind mit ASS im Rahmen einer Untersuchung der Bauchspeicheldrüsenfunktion das Hormon Sekretin gespritzt worden war, bemerkte die Mutter, dass sich die Symptome des Autismus verbesserten. Die Mutter und der Arzt waren von einem Zusammenhang zwischen Sekretin und Besserung überzeugt, und machten dies öffentlich. Ärzte begannen die Behandlung durchzuführen, und die Nachricht, Sekretin könne Autismus heilen, verbreitete Hoffnung in der Welt. Doch als die vermeintliche Heilung systematisch untersucht wurde, blieb nichts von der Behauptung übrig.6 Dennoch wollten viele Eltern, die an der Studie teilgenommen hatten, die Behandlung weiter durchführen, weil sie vom Effekt überzeugt waren (Offit 2008). Und es dauerte Jahre, bis die Therapie wieder weitestgehend verschwand.

Ähnlich war es bei den casein- und glutenfreien Diäten, die auch heute noch eine gewisse Rolle spielen. Hier gab es auch einen postulierten Mechanismus. Substanzen aus dem Darm sollten über die, durch Gluten und Casein geschädigte, Darmwand in das Blut und von dort ins Hirn gelangen, wo sie einen Beitrag zum Autismus leisten. Auch hier gibt es nur eine geringe Plausibilität und wenige Hinweise auf einen Zusammenhang.7 Ähnlich wie bei der umfassenden Behandlung im Rahmen des CEASE-Programms könnte eine strenge Diät und die damit verbundene bessere Strukturierung im Tagesablauf für die Verbesserung gesorgt haben.

Einen weiteren Schub für die Hypothese der „Darm-Hirn-Achse“ brachte eine Pilotstudie von 2001, bei der Veränderungen der Symptomatik durch das Antibiotikum Vancomycin bei elf Kindern mit ASS untersucht wurden (Sandler et al. 2000). Vancomycin hat den Vorteil, dass es nicht vom Darm resorbiert wird und seine Wirkung nur dort zeigt. Allerdings gehört es zu den wenigen Antibiotika, welche gegen Multiresistente Staphylokokken (MRSA) eingesetzt werden können, harmlos ist es nicht. Um zu verstehen, wie man auf die Idee kommt, ein Reserve-Antibiotikum an Kinder ohne Zeichen für eine entsprechende Infektion zu verabreichen, muss man einen Schritt zurückgehen.

Mit der Aufnahme von Autismus ins Klassifikationssystem DSM-III im Jahr 1984 wurde über dessen Ursachen spekuliert. Dabei wurde immer wieder der Einfluss des Immunsystems diskutiert. Einige betroffene Eltern glaubten, ihre Kinder hätten aufgrund ihres „schwachen“ Immunsystems häufiger Mittelohrentzündungen als Kinder ohne ASS. Mittelohrentzündungen wurden oft mit Antibiotika behandelt, dadurch soll die Darmflora geschädigt worden sein. Solch eine Schädigung ist durchaus vorstellbar, doch die darauf aufbauenden Behauptungen verlieren sich in bloßer Spekulation.

So sollen sich aufgrund der Schädigung dauerhaft „schlechte“ Bakterien den Darm angesiedelt haben. Speziell der Keim Clostridium difficile wurde verdächtigt, mittellange Fettsäuren, insbesondere „Propionsäure“, zu produzieren, die über das Blut ins Hirn gelangen und dort für Veränderungen sorgen sollten, die den Autismus auslösten. Diese Argumentationskette hat so viele schwache Glieder, dass sie ihr eigenes Gewicht nicht hält. Weder leiden Kinder mit Autismus häufiger unter Mittelohrentzündungen, noch verändern Antibiotika die Darmflora dauerhaft.

Die Clostridien produzieren keineswegs solche Mengen Propionsäure, dass die Konzentration relevant hoch wird, und der Stoff durchdringt auch nicht die Blut-Hirn-Schranke. Natürlich kann keine Rede davon sein, all dies würde Autismussymptome hervorrufen. In der Pilotstudie fanden die Autoren signifikante Verbesserungen in der Symptomatik der behandelten Kinder. Doch es gab weder eine Kontrollgruppe noch eine Verblindung der Behandler oder der Eltern. Die Eltern waren selektiert, weil sie von vornherein der Ansicht waren, ihre Kinder hätten eine „zerstörte“ Darmflora. Die verblindete Bewertung des Verhaltens der Kinder durch einen Kinderpsychiater anhand von 30 Minuten Videomaterial vor und während der Behandlung spielt in dem Paper kaum eine Rolle. Es wird nur erwähnt, dass hier ein weniger deutlicher Effekt zu sehen gewesen sei (Sandler et al. 2000).

In einem Konsensuspapier wurde 2010 dargelegt, dass es keine Hinweise für eine kausale Beteiligung des Darms an der Entstehung von ASS gibt und dass die bisher vorgelegten Ergebnisse bei weitem nicht ausreichen, um darauf eine Therapie zu basieren.8 Der Nobelpreisträger für Medizin von 2008 Luc Montagnier hat es dennoch getan. Er hat eine Methode zum Nachweis von abgelaufenen Infektionen entwickelt, die an Sensitivität alles in den Schatten stellt, was man heute in Labors findet. Wenn die Methode replizierbar wird, können dem Nobelpreis in Medizin einer in Physik folgen.

Wahrscheinlicher ist, dass Montagnier unter der „Nobel Disease“9 leidet, einem Phänomen, dem auch die Reputation von Linus Pauling zum Opfer gefallen ist. Montagnier behauptete in einem Paper 2009 die „elektromagnetischen Schwingungen“ von Bakterien-DNA noch nachweisen zu können, wenn diese soweit verdünnt war, dass in der Lösung kein Molekül mehr vorhanden sein dürfte. Das klingt irgendwie vertraut. Daher dürfte es nicht verwundern, dass das Gerät, welches zum „Messen“ der Schwingungen genutzt wurde, ursprünglich dazu diente, die Informationen homöopathischer Mittelchen zu digitalisieren und per E-Mail zu verschicken.10 Montagnier nutzt seine diagnostische Methode, um bei Kindern mit ASS Hinweise auf abgelaufene bakterielle Infektionen zu finden und sie langfristig (über Wochen bis Monate) mit Antibiotika zu behandeln. In einem Interview im Rahmen einer ARTE-Sendung zu dem Thema gibt er an, mit dieser Methode gute Ergebnisse zu erzielen.11 Als Alternative würde ich die zwar wirkungslose, aber zumindest ungefährliche psychoanalytische Therapie des Autismus vorziehen, die in Frankreich immer noch einen gewissen Stellenwert haben soll.

Schluss

Für die Behandlung von Menschen mit Autismus benötigt man eine der knappsten Ressourcen im heutigen Gesundheitssystem: Zeit. Zeitmangel und gehetztes Personal werden als häufigste Gründe angegeben, warum pseudomedizinische Methoden in anderen Bereichen so beliebt sind. Beim Thema Autismus greift dieses Argument in der Regel nicht. Eltern wollen alles unternehmen, was ihrem Kind nutzen könnte. Und wenn es Anbieter für Therapien gibt, die einen Nutzen versprechen, werden diese angenommen. Das ist nicht nur das Recht der Eltern, es ist, in gewissem Maße, ihre Pflicht. In unserer Welt kann ein Einzelner nicht mehr alles wissen und vollständig verstehen, sondern ist auf Informationen anderer angewiesen. So vertrauen Anwender, in diesem Fall die Eltern von Kindern mit Autismus, auf das Wissen, die Ausbildung und die Erfahrung von Anbietern. Diese glauben in der Regel an ihre Methoden und sind auch durch widersprechende Fakten nicht davon abzubringen sind. Dennoch sind sie es, die in den Fokus der Kritik gehören.

Den Anwendern sollten wir, als Skeptiker und Skeptikerinnen, im Rahmen unserer Möglichkeiten zur Seite stehen. Dazu gehört, kritisch über die Methoden der Anbieter zu berichten ohne die Anwender zu ver- und ihre Entscheidung zu beurteilen. Denn wenn wir die Realität der Betroffenen, ihre Wünsche und Bedürfnisse ignorieren, wird aus einem offenen ein autistischer Skeptizismus.

Craniosacrale-Therapie
Vorwissenschaftliche Methode der Osteopathie. Schädelnähte erinnerten den Osteopathen Sutherland Anfang des 20. Jahrhunderts an Fischkie- men und er postulierte, sie dienten der Atmung. Dieses als „craniosacraler Rhythmus“ bezeichnete Phänomen wollen Therapeuten anhand von Bewegungen der Schädelknochen gegeneinander spüren. Diese sind möglich, jedoch so gering, dass menschliche Sinneszellen sie nicht „auflösen“ können. Bei einem Test 1994 waren die von Therapeuten getroffenen Aussagen nicht replizierbar, nicht einmal vom selben Therapeuten, beim selben Patienten.

Gestützte Kommunikation
Auch Faciliated Communication (FC) genannt. Ein Stützer versucht Impulse des Gestützten zu interpretieren und die vom Gestützten intendierte Bewegung auszuführen. Grundgedanke ist die höchstspekulative Annahme, dass die gestützte Person ihre Äußerungen zwar denken, aber nicht ausführen kann. In systematischen Untersuchungen konnte bisher nur gezeigt werden, dass die gemachten Äußerungen von Stützer stammten (Offit 2008). In Deutschland bietet das „FC-Netz“ Ausbildungen in FC an und erhebt wissenschaftlichen Anspruch.

Literatur

  • Fein et al. (2013): Optimal outcome in individuals with a history of autism. Journal of child psychology and psychiatry. 54, 2 195–205.
  • Freitag, C. M (2012): Autistische Störungen – State-of- the-Art und neuere Entwicklungen. In. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, 40, 3/2012, S. 139–149.
  • Hülse, M. (2005): Die obere Halswirbelsäule: Pathophysiologie und Klinik. Springer, Heidelberg.
  • King, M. et al. (2009): Diagnostic change and the increased prevalence of autism. Int J Epidemiol. 2009 October; 38(5): 1224–1234.
  • Offit, P. (2008): Autism’s False Prophets: Bad Science, Risky Medicine, and the Search for a Cure. Columbia University Press, New York City.
  • Sandler, R. H. et al. (2000): Short-term Benefit From Oral Vancomycin Treatment of Regressive-Onset Autism. J Child Neurol July 2000, vol. 15, 7, 429–435.
  • Smits, T. (2010): Autism Beyond Despair. Hoemopathy Has the Answers. Emryss Publishers, Haarlem.

Quellen:

  1. http://www.neuropaediatrie.com/uploads/ media/Kiss_und_Arlen_neu._01.pdf, Zugriff am 29.07.2013
  2. http://kiss-therapie.de/kiss.php, Zugriff am 28.07.2013.
  3. http://www.neuropaediatrie.com/uploads/ media/Kiss_und_Arlen_neu._01.pdf, Zugriff am 29.07.2013.
  4. http://www.arznei-telegramm.de/html/sonder/1301015_02.html, Zugriff am 28.07.2013.
  5. http://briandeer.com/wakefield-deer.htm, Zugriff am 29.07.2013.
  6. http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/14651858.CD003495.pub3/abstract, Zugriff am 29.07.2013.
  7. http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/14651858.CD003498.pub3/abstract, Zugriff am 29.07.2013.
  8. Evaluation, Diagnosis, and Treatment of Gastrointestinal Disorders in Individuals With ASDS: A Consensus Report. http://pediatrics. aappublications.org/content/125/Supplement_1/S1.short, Zugriff am 29.07.2013.
  9. http://rationalwiki.org/wiki/Nobel_disease, Zugriff am 29.07.2013.
  10. http://www.quackometer.net/blog/2009/10/ why-i-am-nominating-luc-montagnier-for. html, Zugriff am 28.07.2013.
  11. Siehe dazu auch Luc Montangiers Vortrag „The Microbial Track“, http://www.autismone.org/content/microbial-trac, Zugriff am 15.08.2013.

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