Bedürfnisse und Opium

Ärzte sind auch nur Menschen. Das macht eine rationale Medizin so schwierig. Selbst ohne falsche Anreize und ein durchrationalisiertes System (also haben wir doch eine rationale Medizin?) wäre es schwierig, immer möglichst rationale Entscheidungen zu treffen. Das liegt daran, dass Patienten auch nur Menschen sind. Um diese Allgemeinplätze etwas mit Leben zu füllen, schauen wir uns eine Interaktion zwischen ÄrztInnen und PatientInnen einmal genauer an.

PatientInnen gehen zu ÄrztInnen, weil sie Hilfe wollen. Das Ziel von ÄrztInnen ist, ihren PatientInnen zu helfen1. Patienten haben Erwartungen, die sich u. a. aus ihren Bedürfnissen, ihren Erfahrungen und ihrem Wissen bilden2. ÄrztInnen treffen Entscheidungen, die auf Ihren Erfahrungen und ihrem Wissen beruhen. Ihre Bedürfnisse sollten erst einmal eine untergeordnete Rolle spielen3. Ein Patient mit Schmerzen kommt in der Regel mit der Erwartung zur Ärztin, dass diese ihm den Schmerz nimmt. Für ÄrztInnen ist der Schmerz ein Symptom, dass auf eine Gefahr hinweisen kann, die es auszuschließen gilt. Das ist das erste Ziel. Wenn eine unmittelbare Gefahr ausgeschlossen wurde, kommt die angemessene Behandlung. Bei akuten Schmerzen, können das Schmerzmittel sein und Abwarten. Wenn die Schmerzmittel wirken und die Schmerzen nach ein paar Tagen weg sind, sind beide Seiten zufrieden.

Wenn die Schmerzen bleiben, ändert sich das. Die Erwartungen der Patienten bleiben dieselben. Das Wissen der ÄrztInnen ändert sich nicht. Sie wissen, dass die meisten Schmerzen ohne klar erkennbare Ursache wieder verschwinden, auch wenn es unter Umständen länger dauern kann. Sie wissen, dass die Einnahme von Schmerzmitteln über einen längeren Zeitraum problematisch ist, weil die Wirkung nachlässt und die Nebenwirkungen zunehmen. Sie wissen, dass es für viele Schmerzen keine klare Ursache gibt. Sie wissen, dass oft Dinge auf Röntgenbildern eine Veränderung zu sehen ist, diese Veränderung ich jedoch nicht mit den Symptomen zusammenhängen muss. Sie wissen, dass oft das Gegenteil der Fall ist. Trotzdem muss das Röntgenbild, ist es erst einmal gemacht, den Patienten erklärt werden. Wenn das Röntgenbild zu den Symptomen des Patienten zu passen scheint, ist es schwer, ihm oder ihr zu erklären, dass es wahrscheinlich keinen Zusammenhang zwischen dem Bild und den Symptomen gibt gibt.

Wir haben dann einen Patienten der gerne möchte, dass seine Symptome verschwinden, einen Arzt, der den Patienten dabei zwar unterstützen möchte, jedoch weiß, dass er eigentlich nicht viel tun kann, und ein Röntgenbild was auf den ersten Blick die Beschwerden erklärt, es bei näherem hinsehen jedoch nicht tut.

Rational wäre es in einem solchen Fall, den Patienten von der rationalen Behandlung zu überzeugen und herauszufinden, welche er Unterstützung er oder sie in der Zwischenzeit benötigt. Wenn der Patient jedoch durchsetzungsstärker, rhetorisch geschickter oder aus anderen Gründen überzeugender ist als der Arzt, sieht die Sache anders aus. Vielleicht kann er diesen dazu überreden, dass er zum Beispiel ein stärkeres Schmerzmittel bekommt. Das führt zu einer irrationalen Behandlung. Unter Umständen ist der Patient dann zwar zufrieden, bekommt aber eine schlechte Behandlung. Auch das Gefühl von Hilflosigkeit auf Seiten von ÄrztInnen kann dazu führen, dass sie lieber etwas machen, als dass sie nichts machen, selbst wenn nichts zu machen, die rationale Entscheidung wäre.

Es gibt eine Studie zur Patientenzufriedenheit. In dieser Studie konnte ein Zusammenhang zwischen der Patientenzufriedenheit und dem Therapieergebnis sowie der Sterblichkeit. Waren Patienten mit Ihrem Arzt besonders zufrieden, war das Behandlungsergebnis schlechter und die Patienten hatten eine erhöhte Sterblichkeit. Natürlich ist ein Zusammenhang noch kein kausaler Zusammenhang. Aber es ist kein Signal. Das Ergebnis der Studie passt zu einem Phänomen, welches man in den USA beobachten kann. Dort hängt das Gehalt der Ärzte teilweise davon ab, wie sie nach einer Behandlung von ihren Patienten bewertet werden. Das führt unter Umständen dazu, dass Ärzte eine medizinisch schlechtere Behandlung wählen, weil dies die Patienten zufriedener macht. Zum Beispiel könnte eine Patientin ein Opioid-Schmerzmittel verabreicht werden, obwohl ein leichteres Schmerzmittel oder gar keines eigentlich die richtige Behandlung gewesen wären. Der Patient ist dann zufrieden, der Arzt bekommt eine gute Bewertung, und der Pharmakonzern freut sich. In den USA haben aggressive Werbung direkt an die Konsumenten und dieses Wertungssystem dazu geführt, dass dort von einer Opioidkrise gesprochen wird. Mittlerweile sterben in den USA mehr Menschen an einer Überdosis von Opioidschmerzmitteln als an Schusswunden.

In Deutschland stehen wir bisher nicht vor einem Problem dieser Größenordnung. Deutschland ist traditionell zurückhaltend mit der Verordnung von Schmerzmitteln. Das hat über Jahrzehnte dafür gesorgt dass Patienten unnötig gelitten haben. Mittlerweile schlägt das Pendel jedoch – zumindest teilweise – in eine andere Richtung. Es gibt Rehabilitationseinrichtungen, die sich überwiegend damit beschäftigen, Menschen von Opiaten zu entgiften und zu entwöhnen, die sie aufgrund chronischer Schmerzen verschrieben bekommen hatten.

Um nicht falsch verstanden zu werden, Opiate sind ein wichtiges Standbein der Schmerztherapie. Aber Opiate haben auch starke Nebenwirkungen und ein großes Suchtpotenzial. Früher dachte man, Menschen die Schmerzen haben, seien vor dem Suchtpotenzial geschützt. Sind sie aber nicht. Darum wurde eine Leitlinie(PDF) herausgegeben, in der die evidenzbasierte Langzeitbehandlung von „nicht tumorbedingten Schmerzen mit Opiaten“ behandelt wird. Man könnte denken, ärztliche Kollegen würden sich darüber freuen, mit wissenschaftliche Evidenz versorgt zu werden, um rationale Entscheidungen treffen können. Natürlich wird in der Leitlinie auch auf die Nebenwirkungen und Gefahren von Opiaten hingewiesen. Das hat die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin dazu veranlasst, in einer Pressemitteilung gegen die Leitlinie Stellung zu beziehen. Die Gesellschaft warnt davor, in Zeiten zurück zu fallen, in denen eine „Opiatphobie“ geherrscht habe, sie spricht sich gegen Bevormundung aus. Man hält LONTS für zu wissenschaftlich, Probleme von Schmerzpatienten seien viel zu individuell und die Leitlinie behindere die Ärzte in ihrer Therapiefreiheit. Die Gesellschaft fürchtet, dass Menschen eine sinnvolle Behandlung vorenthalten werden, weil Gefahren der Opiate zu sehr betont würden.

Wenn die Ergebnisse der Leitlinie der Praxis der Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin widersprechen, sollte sich die Praxis der Leitlinie annähern und nicht umgekehrt. Dabei ist es durchaus möglich, dass es Argumente gegen die in der Leitlinie ausgesprochenen Empfehlungen gibt. Diese Argumente müssen jedoch eine wissenschaftliche Grundlage haben. Mit der Behauptung „in der Praxis“ laufe es halt anders eine Leitlinie abzutun, spricht schon für einen Mangel an Verständnis für Medizin. Es ist betrüblich, wen Fachgesellschaften für Patienten die Chance auf eine rationale und langfristig sinnvolle Behandlung verringern, statt sie zu erhöhen.

Im letzten Beitrag zu fehlerhaften Behandlungen schrieb ich u. a. auch etwas zur systematischen Überschätzung des Wertes von Erfahrungen unter Medizinern. Mir scheint als hätte die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin diesen systematischen Fehler auch hier begangen.

  1. Das ist sehr allgemein gehalten, eine Präzisierung benötigte aber einen eigenen Absatz.
  2. Das ist natürlich vereinfacht dargestellt.
  3. These: Je höher der Stress, desto höher werten ÄrztInnen eigene Bedürfnisse.

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