Gefährliche Orte in Sachsen

Die Polizei in Sachsen hat kürzlich 61 gefährliche Orte oder Gefahrenzonen in Sachsen bekannt gegeben. An diesen Orten darf die Polizei beispielsweise überwachen und anlasslos Personen kontrollieren. Die sächsische Regierung und Polizei sind für das Ausrufen dieser Gefahrenzonen kritisiert worden. Eine Kritik bezieht sich auf die Maßstäbe, um einen Ort als „gefährlichen Ort“ einzustufen. Die kennt nämlich niemand. Niemand außerhalb der Polizei. Wenn es keine Daten gibt, hilft vielleicht eigene Erfahrung.

Ich wohne in der Nähe von gleich neun der 61 gefährlichen Orte Sachsens und wollte einmal erfahren, wie sich diese gefährlichen Orte zur besten Sendezeit anfühlen.

Um kurz vor Acht beginne ich am Albertplatz, dem Tor zur Neustadt. Die Temperatur ist noch um die 30°C, die Stadt riecht nach den getrockneten Hinterlassenschaften des Lebens, die sich über Bürgersteige und Straßen gelegt haben und seit Wochen nicht von Regen weggespühlt wurden. Es ist einer dieser Orte, die mitten in der Stadt einen hohen Erholungswert haben könnten, wenn er nicht von zweispurigen Verkehrsadern durchzogen wäre. Die sind um diese Zeit noch gut gefüllt und dominieren die Geräuschkulisse. Das Publikum ist gemischt, die meisten Menschen sind mit irgendeiner Form der Nahrungsaufnahme beschäftigt. Vor dem Artesischer Brunnen steht ein mobiler blauer Stand, der Basmati-Reis und Hot Dogs verkauft, die – alle Ängste der PEGIDA erfüllend – als Halal ausgewiesen sind. Vor mir verliert ein junger Mann das Gleichgewicht mit seinem Fahrrad und fällt. Eine Familie, die so normal und deutsch aussieht, dass ich an Birne und Kohl denken muss, geht an ihm vorbei; Mutter und Tochter tragen pinke Schuhe. In einer Ecke steht ein Mann der Frauenkleidung trägt, ohne zu versuchen, wie ein Frau auszusehen. Vielleicht ist es der Hitze geschuldet, ich hätte auch gerne einen Rock an. Am Artesischer Brunnen sitzen junge Menschen, die, gesundheitsbewusst wie die jungen Menschen heute sind, einen Kasten Getränke dabei haben, die Spuren von Alkohol enthalten könnten. Ein Schild weist sie als Mitarbeiter eines biotechnologischen Instituts aus, was auch das heterogene ethnische Erscheinungsbild erklärt. In der Hinsicht hat sich in der Neustadt und eigentlich ganz Dresden ohnehin einiges getan. Das Stadtbild hat sich in den letzten Jahren angenehm enthomogenisiert. Leider wird das nicht von allen meinen MitbürgerInnen wertgeschätzt.

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Etwas Mitleid habe ich mit dem jungen Mann neben mir auf der Bank, der bei diesen Temperaturen in braunen Lederschuhen und Jeans an seinem Vaper saugt, während er auf dem Handy spielt. Ich habe nicht lange Zeit mich diesem Mitleid zu widmen, da jemand an mir vorüber geht und ein wenig agitiert mit sich selbst spricht während er Kleidung trägt, die bei 20°C weniger dem Wetter angemessen wären. Er nutzt deutsch, um seine Gedanken auszudrücken. Andere unterhalten sich auf Englisch, Spanisch und Sprachen, die sich für mich „arabisch“ anhören.

Um 20:00 füllt den Platz das Publikum, welches die Neustadt ausmacht, eine bunte Mischung verschiedener Menschen, jeden Alters und aus einem breiten Spektrum sozialer Hintergründe. Menschen die hier wohnen, arbeiten, feiern und einfach eine Pause vom rassistischen Konsens Sachsens suchen.

Noch fühle ich mich sicher an den gefährlichen Orten.

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Die Alaunstraße mit ihrem täglich gereinigten und doch klebrigen Bürgersteig ist ab dem Platz an der Böhmischen Straße mit seinem öffentlichen Pissoir von Außengastronomie gesäumt. Ca. 30m bevor ich die Treppe der Turnhalle am Scheunenvorplatz einsehe kann. Höre ich Glas splittern. Gefahr!

Der Scheunenvorplatz ist ein weiterer der 61 gefährlichen Orte in Sachsen und zu Fuß nur 3min vom Albertplatz entfernt.

Ein großer Mann mit Glatze (vermutlich, dass muss in Sachsen erwähnt werden, unpolitisch motiviert und eher einer biologischen Gegenbenheit geschuldet) entfernt sich entschlossenen Schrittes von der Treppe vor der neuen Turnhalle, begleitet vom Schimpfen einer Frauenstimme. Wieder splittert Glas, diesmal für mich sichtbar auf der Straße, geflogen von der Treppe, wahrscheinlich von der Besitzerin der schimpfenden Stimme.

Der Mann ohne Haare kommt zurück und hat etwas langes in der Hand, das er hält wie eine Waffe. Das scheint nicht nur auf mich so zu wirken, denn die Treppe leert sich umgehend als er sich an ihrem Fuß hinstellt, seinen Stock fest in der Hand und böse in Richtung der schimpfenden Frau schaut. Eine andere Frau schleicht um ihn herum, versucht Kontakt mit ihm aufzunehmen, berührt ihn mutig am Arm, was er nach einem ersten Abschütteln nicht mal ignoriert. Auf der Treppe versucht der Begleiter der Frau diese zu beruhigen. Mit mäßigem Erfolg.

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Nachdem der Mann ohne Haare mit Stock einige Momente an der Treppe gestanden hat, geht er wieder. Als er weg ist, beginnt die Frau, die versucht hatte, Kontakt mit ihm aufzunehmen, Parolen zu schreien. Sie klingen wie der Rumpf einer politische Botschaft, sind aber nicht verstehbar.

Nach kurzer Zeit hat sie die Treppe für sich allein, weil die schimpfenden Frau und ihr Begleiter sich auf die Betonbänke am Scheunenvorplatz bewegt haben. Der Begleiter wirkt gestresst und ängstlich. Die Frau spricht leidenschaftlich.

Alles ist wieder ruhig.

Nach 10 Minuten kommen im kurzen Abstand drei Polizeiautos mit Sondersignal und die darin enthaltenen BeamtInnen schwärmen aus.

Neben mir sitzt ein Paar mit einem Joint. Der Mann wird unruhig als die Polizei kommt und sich umschaut. Die Frau wirkt entspannt. Der Joint, den sie in der Hand hält, könnte das unterstützen. Der Mann steht auf, nimmt seinen Rucksack und geht. Die Frau bleibt. Mit dem Joint. Dann steht sie auch auf und schlendert über den Platz.

Die Polizei macht ihre Arbeit: Situationsklärung. Anzeige. Platzverweis. Letzterer präventiv, weil „Du machst hier immer Ärger“. In der Neustadt habe ich schon häufiger erlebt, wie Polizisten erwachsene Menschen duzen. Jemand in einer Gesprächsgruppe neben mir sagt: „Die kennen hier jeden.“ Na dann.

Eine Mutter nutzt die Gelegenheit und lässt ihrem ca. zwei Jahre alten Sohn von einem der anwesenden Polizisten erklären, dass es verboten ist, sich im Auto nicht anzuschnallen. Verkehrserziehung in der Gefahrenzone, dafür braucht es Nerven aus Stahl.

Die schimpfende Frau versucht, über ihren Platzverweis zu diskutieren. Die empfundene Ungerechtigkeit der Maßnahme sorgt dafür, dass sie kurz wieder die Stimme erhebt. Dann geht sie. Ich auch, es wird Zeit die Außengastronomie zu nutzen. Noch fühle ich mich sicher an den gefährlichen Orten.

Um 21:30 auf dem Weg zum Alaunplatz, dem dritten gefährlichen Ort des heutigen Abends, sitzen Menschen an einem Tisch, die vermutlich Mieten zahlen können, die die Gentrifizierung des Stadtteils vorantreiben. Sie essen Sushi, trinken Wein und wirken sehr zufrieden, nicht dazu zu gehören und doch dazu zu gehören.

Einige Meter weiter tragen junge Menschen, denen ich ein ähnliches Schicksal unterstelle, wie den Menschen mit Sushi und Wein, einen Bierkasten und beginnen ihr Abendwerk.

Am Alaunsplatz tobt ein Mann mit einem kleinen Kind. Jemand fragt mich nach Kleingeld. Musik ist auf der Wiese zu hören, Bierflasche ploppen. Noch fühle ich mich sicher an den gefährlichen Orten.

Zurück auf dem Scheunenvorplatz sitzt eine Gruppe von Menschen, von denen einer Gitarre spielt, während ein anderer singt oder rappt. Einer ihrer mutmaßlichen Freunde wankt um die Gruppe herum und gröhlt selig, während er versucht, Kontakt zu anderen Menschen aufzunehmen. Einer seiner Freunde nimmt ihm, liebevoll aber bestimmt, die Flasche weg. Nach ein wenig Protest setzt er sich ohne seine Flasche zur singenden Gruppe.

Es folgen Flaschensammler 1 und Flaschensammler 2 im Abstand von nicht einmal einer Minute. Die Polizeibehörde rollt langsam die Alaunstraße entlang. Ich beginne, mich an den gefährlichen Orten zu langweilen.

Glücklicherweise habe ich noch das Ziel, in den Alaunpark zu gehen und mir dort den Blutmond anzuschauen. Ich bin nich allein. Ich fühle die Romantik in der gefährlichen Orte.

Auf dem Rückweg setze ich mich nochmal auf den Scheunenvorplatz. Plötzlich kommt ein junger Mann, beugt sich zu mir herunter, wobei er mir deutlich zu nahe kommt und fragt mich lächelnd, beinahe grinsend nach einem „Papier groß“. Vermutlich etwas zum drehen, denke ich, während ich aufstehe und den Abstand zwischen uns vergrößere und ihm deutlich mache, dass er mir zu nahe kommt. Danach haben wir Zeit, zu klären, dass ich ihm nicht helfen kann. Er geht.

Ich frage mich, ob das jetzt gefährlich war? Es fühlte sich nicht so an.

Meine letzte Hoffnung für ein wenig sächsischen Nervenkitzel bietet das Assi-Eck. Doch abgesehen von der üblichen Missachtung der StVO, wobei ausreichend Abstand zu den Straßenbahngleisen gehalten wird, zeigt sich dem Außenstehenden eine weite Ödnis von trinkenden, lachenden und rufenden Menschen. Homo Sapiens unter sich. Routinierte Feierlaune in der Gefahrenzone.

Ich gehe nach Hause, spannender wird es an vier der gefährlichsten Orte in Sachsen heute nicht mehr.

Nachwort:

Ich habe ganz bewusst versucht, Hinweise auf die mutmaßliche Nationalität oder Herkunftsregion der hier erwähnten ProtagonistInnen wegzulassen. Dabei habe ich Situationen geschildert, in denen das Aussehen von Menschen und die damit verbundenen Erfahrungen deren Verhalten aus meiner Sicht gut erklären konnten.

Die Erfahrung an diesem Abend ist meine. Ich gehe nicht davon aus, dass sie universalgültig ist. Ich weiß zum Beispiel, dass weibliche Menschen sich an den Orten, an denen ich mich aufhielt weniger sicher fühlen als ich. Ich habe nach sichtbarem Verhalten Ausschau gehalten, welches dieses Gefühl unterfüttern könnte und an diesem Abend nichts gesehen. Das war im letzten Sommer anders als ich grenzüberschreitende verbale Verhaltensweisen häufiger beobachten konnte. Vielleicht sind wir tatsächlich eine lernfähig Spezies.

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Nachwort zur Bezeichnung „gefährlicher Ort“:

An Orten, die von vielen Menschen besucht werden, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass es zwischen diesen Menschen zu Konflikten kommt. Außerdem beeinflussen viele Umwelt- und soziale Faktoren das Verhalten von Menschen. Mich interessiert, ob die erhöhte Anzahl von Polizeiansätzen an diesen Orten vielleicht bereits dadurch erklärt werden kann, dass sich dort viele Menschen aufhalten? Auch interessieren würde mich, ob die Landesregierung sich über die Umwelt- und sozialen Faktoren an diesen Orten Gedanken macht, um diese langfristig zu beeinflussen?

Ich befürchte jedoch, die CDU Sachsen ist vor allem daran interessiert, mit Law & Order Politik aufzufallen. Das hat natürlich nichts mit der AfD zu tun. Ich fühle mich unsicher an diesem sicheren Ort.

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