Vor einigen Tagen hat ein Mitglied der sogenannten Reichsbürgerbewegung einen Polizisten so schwer verletzt, dass dieser seinen Verletzungen erlag. Zur Konfrontation kam es, weil der „Reichsbürger“ keine Steuern zahlen wollte. Reichsbürger sind nicht neu. Bereits in der Dokumentation „Deckname Dennis“ von 1997 treten Menschen auf, die eigene Dokumente eines Phantasiestaates präsentieren. In letzter Zeit höre ich vermehrt Aussagen, in denen die Gedankenwelt von Menschen aus neurechte Bewegungen mit „Wahnhaft“, „verrückt“ oder auf andere Weise in die Nähe von psychischen Erkrankungen gerückt wird. Das halte ich für nicht nur falsch sondern für gefährlich und verharmlosend (ganz abgesehen davon, dass es zur Stigmatisierung von psychsich erkrankten Menschen beiträgt). Um es vorweg zu sagen: Natürlich kann man eine psychische Erkrankung haben und gleichzeitig der Reichsbürgerbewegung angehören. Das ist aber weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung.
Um das anschaulich zu machen, schlage ich eine kleine Reise vor, ein Gedankenexperiment sozusagen.
Wir stellen uns vor, wir würden aus unserer Herkunft, unserer Nationalität, unserer Zugehörigkeit zur „deutschen Nation“ einen großen Teil unserer Identität schöpfen. Jeder von uns hat bestimmte Dinge, die sie oder ihn als Person definieren, Dinge, die sich jedeR selbst aussucht (Sportverein, Hobby, Arbeit, Eltern sein, Glaube/Nichtglaube etc.). Für unser Gedankenexperiment nehmen wir „die Nation“ dazu, verweben sie mit den anderen Teilen, die uns ausmachen und messen ihr einen hohen Wert zu. „Die Nation“ ist uns so wichtig, dass wir bereit sind, unser Leben für ihr Wohlergehen zu riskieren. Eltern würden in ein brennendes Haus laufen um die eigenen Kinder zu retten. In unserem Gedankenexperiment ist uns die Nation so wichtig wie ein Kind.
Eines Tages erfahren wir, dass unsere Nation gar nicht existiert. Zumindest nicht in der Form, wie wir immer dachten. Wir lernen Menschen kennen, die uns darüber aufklären, dass Deutschland noch immer besetzt ist. Wir haben viel mit diesen Menschen gemeinsam. Auch sie sind stolz auf „ihre Nation“ und erleben ihr deutschsein als Identitätsstiftend. Wir mögen diese Menschen, wir treffen uns mit ihnen, grillen mit Ihnen, es werden Bekannte und Freunde. Sie gehören mehr und mehr zu unserem sozialen Netzwerk. Sie werden uns immer wichtiger, einige „gehören zur Familie“.
Anfangs sind wir skeptisch, wenn sie uns erzählen, dass Deutschland kein Staat ist, dass das dritte Reich noch besteht und Deutschland von den Alliierten nicht nur besetzt, sondern kontrolliert wird. Unsere Freunde geben uns Bücher und schicken uns Links zu Blogs und Videos. Überall wird erklärt, dass alles, was man so in der Schule lernt, nicht stimmt. Sogar „Völkerrechtler“ erklären, dass es die BRD nicht gibt.
Irgendwann wandelt sich die Skepsis in Überzeugung. Aus der Überzeugung erwächst Wut. Wut darüber, dass „die Politikerkaste“ das „deutsche Volk“ belügt und alles daran setzt die „deutsche Nation“ zu zerstören. Und damit bedrohen diese „Volksverräter“ nicht ein abstraktes Konstrukt, sondern einen Kern unserer Identität sowie der Identität unserer Freunde. Natürlich sind wir nicht für Gewalt. Wir wollen uns aber wehren, wir müssen uns wehren, gegen die Bedrohung, die von der BRD und ihren Organen ausgeht. Also bereiten wir uns vor und kaufen Waffen, um uns zu verteidigen.
Eines Abends erzählt einer unserer Freunde, er haben aufgehört Steuern zu zahlen, weil er mit seinen Steuern nicht mehr diesen Unrechtsstaat, der ja kein Staat ist, unterstützen wolle. Dieser Freund hat zwar jetzt ziemlich viel Papierkram am Hals aber er scheint damit durchzukommen. Und er zeigt diesem Staat, dass er sich nicht alles bieten lässt. Er erzählt von den Briefwechseln, in denen er die Legitimität der Beamten anzweifelt und freut sich über ihre Hilflosigkeit.
Es entsteht ein Gefühl von Gemeinschaft. Der Kampf für eine gemeinsame Sache schweißt zusammen. Das Gefühl von Wut, gemischt mit Hilflosigkeit gegenüber dieser BRD und der „blinden Gesellschaft“ verwandelt sich in Zorn und Handlungsdrang. Am nächsten Tag hören auch wir auf, Steuern zu zahlen.
Eines Tages, nach Monaten, wenn nicht Jahren von Schriftwechseln, Gerichtsterminen und heftigen persönlichen Auseinandersetzungen, steht ein Gerichtsvollzieher gemeinsam mit dem SEK vor der Tür. Wir wussten dass es so kommen würde und haben uns vorgenommen, uns nicht mehr verarschen zu lassen. Wir werden diese unsere Nation verteidigen. Natürlich haben wir Angst! Maskierte, schwer bewaffnete Schergen einer fremden Macht wollen uns unser Eigentum wegnehmen. Sie berauben das „deutsche Volk“! Wir sind das Volk! Wir lassen uns nicht berauben! In diesem Kampf geht es um etwas Größeres als uns, unser Eigentum oder unser Leben. Es geht um die Zukunft unserer Freunde, unserer Famielie, unserer Nation! Wir haben kaum etwas zu verlieren aber viel zu gewinnen.
Wir zielen und drücken ab. Für Volk und Vaterland. Aus freien Stücken.
Damit endet unser Gedankenexperiment. Schauen wir uns an, was passiert ist. Alle Entscheidungen, die „wir“ auf diesem Weg getroffen haben, haben wir freiwillig getroffen. Alle Entscheidungen haben wir Aufgrund der Wirklichkeit getroffen, die uns umgibt. Unsere Freunde, die Bücher die sie uns empfehlen, die Blogs die wir lesen. Experten! Wir finden an jeder Ecke Belege dafür, dass unsere Meinung korrekt ist. Alles was unserer Meinung nicht entspricht, nehmen wir nicht ernst, entwerten es als Teil der Verschwörung eines übermächtigen Gegners. Jeder Schritt, den wir gegangen sind, baut logisch auf dem Vorherigen auf. Wir sind immer „Herr unserer Sinne“. Wir haben jederzeit die Kontrolle über unsere Gedanken und Gefühle und unsere Taten (Kontrolle meint hier das „normale“ Maß an Kontrolle, welches psychisch gesunde Menschen haben). An keine Stelle war ein Wahn notwendig, um unsere Handlungen zu lenken.
Hätten wir einen Wahn, könnten wir alle diese Dinge zwar ebenfalls denken, doch sie hätten sich uns aufgedrängt, unabhängig davon, was in unserer Umgebung vorgeht. Und wenn es sich um eine psychische Erkrankung handeln würde, wären wahrscheinlich noch andere Symptome vorhanden. Wir würden hören, was Angela Merkel denkt. Wir hätten Angst, Beamte hätten uns Gedanken eingepflanzt und könnten uns beeinflussen. Wir würden mehr und mehr Schwierigkeiten bekommen, unseren Alltag zu bewältigen. Normale Gespräche wären unter Umständen schwierig zu führen. Einen Wahn kann man nur schwer verstecken. Der Mensch aus unserem Gedankenexperiment kann sich jederzeit entscheiden, nicht über sein Reichsbürgertum zu sprechen, wenn der Kontext es verlangt. Einem Menschen mit einer psychischen Erkrankung würde das sehr schwer fallen.
Ich kann und will nicht sage, ob die Person, die den Polizisten erschossen hat, psychisch erkrankt war oder nicht. Das ist auch nicht wichtig. Wichtig ist, dass Menschen, gesunde Menschen, sehr verrückt erscheinende Dinge glauben können, ohne „verrückt“ zu sein. Es ist sogar möglich, dass Menschen gesünder bleiben, WEIL sie an verrückt erscheinende Dinge glauben. Und wir alle müssen aufhören, zu implizieren, dass Menschen verrückt sind, weil sie uns unverständliche Dinge tun. Gerade wenn es sich um Feinde der Demokratie handelt.
Wären alle „Reichsbürger“ verrückt, wäre diese Bewegung kein Problem! Sie sind aber alle bei Sinnen. Sie wissen genau, was sie tun, sie haben sich dazu ENTSCHIEDEN, unsere Gesellschaft zu bekämpfen. Und darum müssen wir uns wehren. Gegen Menschen mit psychischen Erkrankungen müssen wir uns nicht wehren. Menschen mit psychischen Erkrankungen haben ein Anrecht auf eine Behandlung. Zumindest solange, bis die Reichsbürger den Laden übernehmen.
Ein Gedanke zu “Verrückte Reichsbürger”