[Dieser Text ist ursprünglich in der Zeitschrift “Der Skeptiker” in der Ausgabe 1/2014 erschienen.]
Einleitung
Entdeckung
Ein Markt wird geschaffen
Vitamine Heute
Linus Pauling: Nobelpreisträger und Vitaminguru
Pauling und „The Nobel Disease“
Vitamine als Krankmacher
Reglementierung unerwünscht
Mythos vom Heilsbringer
Der erste und einzige Mensch, der je den Stein der Weisen und damit eine notwendige Zutat zum Elixir für die Unsterblichkeit herstellen konnte, heißt Nicolas Flamel. Flamel war ein berühmter Alchemist und Freund von Albus Dumbledore, dem Schulleiter von Hogwarts. So steht es auf den Schoko-Frosch-Karten in J. K. Rowlings „Harry Potter und der Stein der Weisen“. Doch Flamel legt, mehr als 400 Jahre alt, keinen Wert mehr auf ewiges Leben und zerstört den Stein. Vielleicht hatte er mittlerweile entdeckt, wie Vitamine unser Leben verlängern können.
Stelle ich mir eine Zitrone vor, muss ich, wie ein konditionierter Hund, der beim Ertönen der Glocke speichelt, an Vitamin C denken. Gewiss geht es nicht nur mir so. Das liegt vielleicht daran, dass Zitrusfrüchte eine so zentrale Rolle in der Entdeckung der Vitamine spielten, dieser ominösen „Vitalstoffe“, die wir in minimalen Dosen benötigen und die unser Körper nicht selbst bilden kann.
–> Einleitung
Entdeckung
Es war der Versuch, Skorbut zu heilen, der den Menschen auf die Spur der Vitamine brachte. Skorbut ist eine Mangelerkrankung mit äußerst unangenehmen Konsequenzen, die in den Anfangsjahren der Seefahrt ganze Schiffsmannschaften dahinraffte. Vitamin C wird unter anderem benötigt, um Kollagen herzustellen. Kollagen ist wichtig für ein stabiles Bindegewebe, welches unterschiedliche Körpergewebe „zusammenhält“. Ein Symptom von Skorbut ist daher das Herausfallen von Zähnen, weil diese nicht mehr im Kiefer gehalten werden können (soviel zum Thema „Bindegewebsschwäche“). Vitamin C spielt jedoch auch eine Rolle bei der Herstellung von Adrenalin, steigert die Aufnahme von Eisen und wird für bestimmte Vorgänge im Immunsystem benötigt. Um dem Geheimnis des Skorbuts auf die Spur zu kommen, unternahm James Lind 1754 einen der ersten klinischen Versuche mit einer Kontrollgruppe, über dessen ethische Implikationen hier geschwiegen werden soll, und konnte zeigen, dass die Krankheit Skorbut durch Zitrusfrüchte sowohl verhindert als auch geheilt werden kann. Diese Erkenntnis war so wichtig, dass Vitamin C nach der erstmaligen Synthetisierung Anfang des 19. Jahrhunderts den Namen Ascorbinsäure erhielt (i. w. S.: „Säure, die Skorbut verhindert“).
Skorbut blieb nicht die einzige Erkrankung, die auf einen Mangel an Vitaminen zurückgeführt werden konnte.
Rachitis ist heute eine Rarität. Bei der Rachitis handelt sich um eine fehlerhafte Knochenbildung, die in der Vergangenheit teilweise grotesk verformte Skelette hervorrief. Ursache ist ein Mangel an Vitamin D. Dabei trifft auf Vitamin D die Definition Vitamin eigentlich nicht zu, weil Menschen es unter Einfluss von Sonnenlicht selbst bilden können. Vitamin D ist eher ein Hormon, soll aber hier so behandelt werden wie in der Drogerie, als Vitamin. In nördlichen Breiten litten früher vor allem Kinder unter Vitamin-D-Mangel, was heute mit Substitution („Vitamin-D-Prophylaxe“) ab Geburt verhindert wird. Im Grunde bekommen heute alle Säuglinge im ersten Lebensjahr die kleinen Tabletten, in denen häufig auch noch etwas Fluorid enthalten ist. Es wird die erfahrenen Skeptiker nicht wundern, dass es um die Substitution von Vitamin D diverse Verschwörungstheorien gibt. Unter anderem, dass sie gerade nicht vorteilhaft für Knochen und Zähne sei, sondern im Gegenteil beides schwäche.
Beriberi ist eine weitere Vitaminmangelerkrankung, hervorgerufen durch das Fehlen von Vitamin B1 (Thiamin). Auch diese Erkrankung ist in unseren Breiten zu einer Rarität geworden, in anderen Weltgegenden jedoch noch ein Problem. Betroffen sind vor allem Menschen, die sich vorwiegend von geschältem Reis ernähren, und damit ein nicht unwesentlicher Teil der Weltbevölkerung. Um diesen Mangel zu verhindern, wurde genetisch modifizierter Reis entwickelt, der Vitamin B1 nicht nur in der Schale enthält, sondern im gesamten Korn („Goldener Reis“, siehe auch Skeptiker 1/2010, S. 13-21). Leider wird die Einführung dieser Reissorte von diversen Lobbyverbänden hart bekämpft.
–> Einleitung
Ein Markt wird geschaffen
In einer Zeit, als Nahrungsmittel nicht so sicher, dauerhaft und vielfältig verfügbar waren wie heute, haben die Entdeckung von Vitaminen und ihre Substitution sicher zu einigen beeindruckenden Heilungen geführt. Durch bessere Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln wurde Mangelversorgung, abgesehen von bis heute bestehende Ausnahmen (Vitamin D bei Säuglingen, Folsäure bei Schwangeren), jedoch selten.
Für eine Industrie, die es schaffte, mehr und mehr der entdeckten Vitamine zu synthetisieren, wurde die gute Versorgung der Bevölkerung mit Vitaminen zu einem Problem: Es gab ein Produkt und keinen Markt dafür. Gelegen kam da die Herrschaft des Nationalsozialismus. Der ideologisch durch den Wunsch nach Übermenschen motivierte Optimierungswahn und die nicht unbegründete Furcht um die Versorgungssicherheit im Kriegsfalle, sowohl an der Front als auch in der Heimat, führten zu massiver Forschung an Vitaminen und deren Bedarf. Die Lobbyarbeit von Roche (Grill 2012) und die Idee, dass mehr und viel mehr von der kleinen Menge etwas Gutem nutzen müsse, führten zur Verteilung von Vitaminen an Wehrmachtssoldaten. Die Vitamingläubigkeit der Nazis soll so weit gegangen sein, dass die Engländer sie für eine Kriegslist genutzt haben sollen. Die Treffsicherheit der englischen Flugabwehr bescherte der deutschen Luftwaffe Verluste, ohne dass die deutsche Militärführung den wahren Grund kannte. Englische Soldaten, die Flugabwehrgeschütze bedienten, so hieß es, würden große Mengen Möhren verspeisen. Das darin enthaltene Vitamin A sei gut für die Augen und sorge so für die gute Sicht der Soldaten. Mit dieser gestreuten Lüge sollen die Engländer versucht haben, davon abzulenken, dass sie über Radartechnologie verfügten, welche einen entscheidenden Vorteil gegenüber der deutschen Luftwaffe bot. Deren Flugscheiben und Tarntechnologie waren, wie wir heute wissen, damals noch nicht im Einsatz. Die Lüge vom „Augenvitamin“ fiel in Deutschland auf so fruchtbaren Boden, dass sie bis zum heutigen Tage zum Standardrepertoire vieler Eltern gehört, um den Nachwuchs zum Verspeisen von Möhren zu motivieren.
Nicht nur die Führung der Nationalsozialisten war fasziniert vom Versprechen einer Leistungssteigerung durch Vitaminsubstitution. Denn man muss keinen Angriffskrieg im Hinterkopf haben, um den Verlockungen dieser „Vitalstoffe“ zu erliegen. Vitamine sollen auch das Erreichen friedlicher Ziele erleichtern. Das Leistungsvermögen möglichst schnell, möglichst einfach und möglichst deutlich zu steigern, gehört zur Grundmotivation vieler Menschen, die Sport betreiben und an Wettkämpfen teilnehmen. Sieht man einmal von den Zaubermitteln aus den Apothekerschränken der Schattenmänner des Leistungssports ab, bleiben abgesehen von schweißtreibendem und anstrengendem Training nicht viele Möglichkeiten zur Optimierung übrig. Eine Gruppe von Substanzen, die laut Marketing der Hersteller mehr Leistung versprechen, sind jedoch die Vitamine. Mit Anfang 20 habe ich große Mengen Vitamin E Kapseln geschluckt, weil mein damaliger Trainer mir mitgeteilt hatte, dass aktive Sportler häufig unter einem Vitamin-E-Mangel litten. Außerdem sei Vitamin E ein Antioxidans und fange freie Radikale. Also rein damit. Ich nahm Vitamin E in Kapsel- und Tablettenform und erwartete gespannt meine Leistungssteigerung. Die blieb aus, es geschah eher das Gegenteil. Korrelation mit Kausalität gleichsetzend, beendete ich meinen Versuch mit N=1 und kehrte zu einer Ernährung nur mit Wasser und Brot zurück. Meine größte Quelle synthetisierter Vitamine stellt heute Ascorbinsäure dar, die gern als Konservierungsmittel in Fertiggerichten genutzt wird.
–> Einleitung
Vitamine Heute
Vitamin E war mein letzter Versuch beim Sport zu mogeln und ich kann sagen: Es macht das Leben leichter, wenn man nicht immer an die Einnahme kleiner Pillen denken muss. Vielen Menschen scheint es anders zu gehen, denn Vitamine boomen. Kaum ein synthetisch hergestellter Stoff hat ein so gutes Image wie Vitamine. Egal, um welche Art von Produkt es sich handelt, mit dem Zusatz von Vitaminen scheinen Hersteller es besser machen zu wollen, gesünder. Man kann sich fragen, warum die Angst vor Mangel in einem Land des Überflusses so groß zu sein scheint.
Genährt wird sie von einer Lobby, die am Verkauf von möglichst vielen Vitaminen interessiert ist. Da die wirklichen Vitaminmangelerkrankungen (Hypovitaminosen) eine Rarität sind, wurden die Vitaminunterversorgung, also die Unterschreitung eines Grenzwertes im Blut „entdeckt“. Damit kann man so gut wie jeden Menschen zu einem Bedürftigen erklären, auch wenn er keine klinischen Symptome zeigt und niemals zeigen würde.
–> Einleitung
Linus Pauling: Nobelpreisträger und Vitaminguru
Wie so oft, ist es jedoch zu einfach, einer Lobby allein die Verantwortung für den Vitaminwahn zu geben. Das Fundament der heutigen Situation legte ein genialer Wissenschaftler, dessen Lebensweg jedem Anhänger des kritischen Denkens Leitbild und Warnung zugleich sein kann: Linus Pauling.
Linus Pauling wurde 1901 in den USA geboren. 1931 veröffentlichte er eine Arbeit im Journal of the American Chemical Society mit dem Titel „The Nature of the Chemical Bond“, in dem es ihm gelang, die Quantenmechanik in die Chemie einzuführen (Offit 2012). 1932 formulierte er das Konzept der Elektronegativität. Für seine Arbeiten zu chemischen Bindungen erhielt er 1954 den Nobelpreis für Chemie.
Pauling konnte zeigen, dass Hämoglobin seine Struktur verändert, je nachdem ob Sauerstoff daran gebunden ist, oder nicht – etwas, das heute bereits Medizinstudentinnen und -studenten lernen. Im Zuge seiner Arbeit an Hämoglobin entwickelte er das Konzept der Sekundärstruktur von Aminosäuren. Aminosäuren bilden in bestimmten Kombinationen, bestimmte sich wiederholende Strukturen (Alpha-Helix, Beta-Faltblatt). Diese falten sich auf eine charakteristische, regelmäßige Weise und bilden so Proteine. Pauling entdeckte, dass bei der Sichelzellanämie, einer Erkrankung der roten Blutkörperchen, im Hämoglobinmolekül nur eine einzige Aminosäure verändert ist. Wahrscheinlich war er auch der Struktur der DNA-Doppelhelix auf der Spur und hätte sie entschlüsselt, wenn nicht Rosalind Franklin, James Watson und Francis Crick ihm zuvorgekommen wären.
1958 übergab Pauling der US-Regierung eine Petition mit der Unterschrift von 11 000 Wissenschaftlern, in der die Beendigung von Atomwaffentests gefordert wurde. Der daraus resultierende gesellschaftliche Druck führte zu einem Moratorium für Atomwaffentests. Für sein Engagement wurde Pauling der Friedensnobelpreis verliehen.
–> Einleitung
Pauling und „The Nobel Disease„
Im Altern von 65 Jahren widmete sich Pauling jedoch dem Thema, für das er heute vor allem bekannt ist: Vitamin C. Seine Thesen gelten als Grundlage der orthomolekularen Medizin. Anhänger dieser „alternativmedizinischen“ Methode vertreten die Ansicht, so ziemlich jede Erkrankung ließe sich mithilfe hoch dosierter Vitamine und Mineralien verhindern und heilen. Belege zu den Thesen fehlen – was die glühenden Anhänger und Anwender nicht abschreckt.
Pauling äußerte auf einem Kongress im Vorfeld seiner Beschäftigung mit Vitamin C den Wunsch, noch weitere 25 Jahre zu leben, damit er noch viele wissenschaftliche Durchbrüche erleben könne. Irwin Stone, ein Biochemiker, schrieb ihm daraufhin einen Brief in dem er ihm riet, 3000mg Vitamin C täglich einzunehmen. Dann würde er wahrscheinlich noch deutlich länger leben als 25 Jahre. Pauling folgte dem Rat Stones und beobachtete, dass er nicht mehr so oft von Erkältungen geplagt wurde wie früher. Kausalität annehmend, veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel „Vitamin C and the Common Cold“. Darin empfahl er, jeder Mensch solle 3000mg Vitamin C täglich einnehmen, denn so wäre es langfristig möglich, Schnupfen („common cold“) aus der Welt zu schaffen. Das Buch und seine Erweiterung „Vitamin C, the Common Cold and the Flu“ waren Bestseller und die Nachfrage nach Vitamin C war so groß, dass die Anbieter Probleme hatte, den Bedarf zu decken. Hersteller sprachen vom „Pauling-Effekt“. Doch anstatt einen Versuch mit N=1, zu starten hätte Pauling auch einfach in der Bibliothek recherchieren können, ob es schon Wissen zum Effekt von Vitamin C auf Erkältungen gab. Dann wäre er auf eine kontrollierte Studie von 1942 gestoßen, in der bereits gezeigt werden konnte, dass Vitamin C keinen Einfluss auf den Verlauf einer Erkältung hat (Cowan et al. 1942). Aber auch andere Studien, die seine Ansichten zu seinen Lebzeiten widerlegten, interessierten ihn nicht, die Cochrane Collaboration sieht auch heute keine Belege für die Wirksamkeit von Vitamin C bei Schnupfen (Hemilä et al. 2010).
Eine Substanz, die bei Schnupfen Wunder wirken soll, kann man Menschen mit Krebs natürlich nicht vorenthalten. Zumindest war Pauling dieser Meinung, nachdem er einen Brief bekommen hatte, in dem ein Chirurg aus Glasgow von wahren Wundern bei seinen mit Vitamin C behandelten Krebspatienten berichtete. Pauling veröffentlichte die Daten in einem Journal. Bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, dass die Patienten, die zusätzlich Vitamin C bekommen hatten, schon zu Beginn der Therapie gesünder gewesen waren als die Vergleichsgruppe. Pauling blieb jedoch bei der Ansicht, allein mithilfe von Vitamin C würde die Lebenserwartung auf 110 bis 125 Jahre steigen. Das änderte sich auch nicht, als klar wurde, dass seine Behauptungen sich in klinischen Studien nicht belegen ließen. Paulings Vitaminthesen wurden von Wissenschaftlern kaum noch ernst genommen.
In den Medien fanden seine Thesen jedoch umso mehr Resonanz. 1992 wurden in einem Artikel in Time Paulings Thesen unkritisch wiedergegeben. Der hatte mittlerweile sein Arsenal um Vitamin A, E, Selen und Beta-Carotin erweitert und auch die angeblich damit heilbaren Krankheiten umfassten mittlerweile so ziemlich alles, was Menschen erleiden können. Als in den 80ern AIDS aufkam, war Pauling zufolge auch die Immunschwächekrankheit durch Vitamine heilbar. Der „Feldversuch“ in Südafrika, an dem ein Schüler Paulings, Matthias Rath, nicht unmaßgeblich beteiligt war, ging leider für hunderttausende von Betroffenen tödlich aus.
–> Einleitung
Vitamine als Krankmacher
Paulings Ideen wirken auch Jahrzehnte nach seinem Tod weiter und werden uns sicher noch eine Weile begleiten, obwohl die Evidenz mittlerweile ziemlich eindeutig ist. Die Einnahme von Multivitaminpräparaten hat zum Beispiel keinen positiven Einfluss auf die kognitiven Funktionen bei Männern (Grodstein et al. 2013), was den Herstellern natürlich noch Hoffnung für die Verbesserung der kognitiven Funktionen bei Frauen lässt. Auch senken Multivitaminpräparate nicht das Risiko für einen wiederholten Herzinfarkt und sie können auch (in Kombination mit Mineralien) das Risiko für Krebs und andere Herz-Kreislauf-Erkrankungen nicht eindeutig senken (Fortmann et al. 2013).
Leider sind Vitamine nicht nur teuer, in einigen Fällen können sie sogar schaden. So fand eine Meta-Analyse aus dem Jahr 2007 Belege für eine erhöhte Sterblichkeit bei der Einnahme von Vitamin A, E und Beta-Carotin. Eine Studie zur Prävention von Lungenkrebs durch die Einnahme von Beta-Carotin bei Rauchern und Menschen mit hoher Asbestbelastung musste abgebrochen werden, weil die Verum-Gruppe eine deutliche erhöhte Lungenkrebsrate aufwies (Omenn et al. 1996).
Der negative Einfluss von Vitaminen und anderen Nahrungsergänzungsmitteln gerät zunehmend in den Fokus der Forschung. So zeigten sich die Autoren einer Studie zur Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln bei älteren Menschen in Süddeutschland unter anderem besorgt über die deutlich überdosierte Einnahme von Vitamin E (Schwab et. al. 2013). Das Bundesamt für Risikobewertung (BfR) rät, von spezifischen Ausnahmen abgesehen, von der Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln ab und weist darauf hin, dass eine „einseitige und unausgewogene Ernährungsweise nicht durch Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln ausgeglichen werden“ kann. Auch betont das BfR, dass es bisher keine empfohlenen Höchstmengen für Vitamine und andere Nahrungsergänzungsmittel gibt. Schaut man sich die zitierten Ergebnisse an, könnte man sich verwundert die Augen reiben. Medikamente mit einem ähnlichen Verhältnis von Risiko und Nutzen wären längst nicht mehr auf dem Markt (zumindest, wenn korrekte Studiendaten veröffentlicht wären). Nahrungsergänzungsmittel gelten jedoch nicht als Arzneimittel, sondern werden – da sie keinen therapeutischen Nutzen haben – den Nahrungsmitteln zugerechnet. Wie solche Ausnahmen entstehen, zeigt ein Blick in die USA, wo die Situation vielleicht noch besorgniserregender ist als bei uns.
–> Einleitung
Reglementierung unerwünscht
Im 19. Jahrhundert konnten Arzneihersteller alles in ihre Elixiere mischen. Dabei hatten die Anbieter kein Problem, einer „Arznei“ die Heilung jeder Art von „Leiden“, – von schlechtem Atem bis Krebs -, zuzusprechen. In den – auch Kleinkindern verabreichten – Arzneien waren meist Alkohol, Opioide, Kokain und andere Drogen enthalten. Auch Nahrungsmitteln wurde Verschiedenstes beigemischt. Der Journalist Upton Sinclair veröffentlichte 1905/1906 mit „The Jungle“ jedoch einen sozialkritischen Roman, in dem er die Zustände in der Fleischindustrie beschrieb. Fleisch fiel auf den mit Sägemehl, Speichel und Dreck bedeckten Boden und wurde einfach aufgehoben und weitererarbeitet. Ratten liefen über das gelagerte Fleisch und gelegentlich wurden sogar Arbeiter, die in große Behälter fielen, mitverarbeitet. Nach dieser Veröffentlichung waren die Karten neu gemischt.
1906 wurde der „Pure Food and Drug Act“ verabschiedet. Hersteller mussten nun die Inhaltsstoffe ihrer Arzneien deklarieren und durften keine falschen oder irreführenden Behauptungen aufstellen. Allerdings mussten sie auch nicht belegen, dass ihre Behauptungen richtig sind. Ein Wirksamkeitsnachweis war nicht notwendig, ebenso wenig der Nachweis von Sicherheit. 1937 änderte sich das. Ein Antibiotikum, Sulfanilamid, wurde von einem Unternehmen an 350 Personen verteilt. Zur Geschmacksverbesserung war das Mittel chemisch verändert worden, wodurch es nun jedoch äußerst giftig für die Nieren war. Die Verabreichung erfolgte, obwohl das Unternehmen bereits aus Tests mit Ratten von der Giftigkeit wusste. Von den 350 Personen starben 100 an Nierenversagen, die anderen hatten schwere Vergiftungssymptome. Da das Unternehmen jedoch damals innerhalb der geltenden Bestimmungen agiert hatte, konnte ihm kein Fehlverhalten vorgeworfen werden. Erst 1938 wurde ein Gesetz erlassen, nach dem Unternehmen die Sicherheit ihrer Produkte nachweisen mussten. Ein Wirksamkeitsnachweis war weiterhin nicht notwendig. Das änderte sich 1957. In Deutschland war der Wirkstoff Thalidomid unter dem Namen Contergan auf den Markt gekommen. Es kam zum vermehrten Auftreten von Missbildungen an den Armen und Beinen von Neugeborenen. Ein Mitarbeiter der Food and Drug Administration (FDA) hielt dies für keinen Zufall und versagte Thalidomid die Zulassung in den USA. Nach dem Skandal in Deutschland wurde in den USA ein weiteres Gesetz erlassen, nach dem die Hersteller für die Marktzulassung eines Produktes nicht nur die Sicherheit, sondern auch die Wirksamkeit ihrer Produkte belegen mussten. Leider war an diesem Punkt die Geschichte noch nicht vorbei und Linus Pauling übernahm dabei eine nicht unwichtige Rolle. Als er 1970 in seinem Buch die Einnahme von 3000 mg Vitamin C täglich empfahl, war die FDA über die möglichen Folgen besorgt, denn so hohe Dosen waren bisher nicht untersucht. Also versuchte sie zu erreichen, dass Produkte nicht mehr als 150 Prozent der empfohlenen Menge an Vitaminen enthalten dürften. Dies bedrohte das Geschäftsmodell einer 700 000 000-Dollar-Industrie.
1975 wurde ein Gesetzentwurf vorgestellt, welcher der FDA die Regulierung von Vitaminzusätzen verbot. Standesorganisationen von Ärzten und Ökotrophologen sprachen sich gegen das Gesetz aus. In der Anhörung zum Gesetz versuchte eine Anwältin deutlich zu machen, dass Menschen bei der Nahrungsaufnahme allein durch die Kapazität des Magens vor der Aufnahme großer Mengen von Vitaminen geschützt sind. So müsse man acht Honigmelonen verspeisen, um 1000mg Vitamin C zu sich zu nehmen. Obwohl sie damit einen der Kerne der Vitaminindustrie angriff, nämlich die Behauptung, dass es sich bei Vitaminen um ein natürliches und damit „gutes“ Produkt handele, wurde das Gesetz verabschiedet und die FDA von der Regulierung von Vitaminen ausgeschlossen.
In den 1990ern versuchte man, Vitamine und andere Nahrungsergänzungsmittel wieder unter die Kontrolle der FDA zu stellen. Sorgen machten der FDA vor allem die Behauptungen, dass diverse Produkte angeblich vor Krebs schützten oder sogar die Krankheit, wie auch die meisten anderen Erkrankungen, heilen sollten. Die Argumente für eine solche Regulation waren logisch. Die Wirkstoffe aus Medikamenten entstammen zum Teil jenen Pflanzen, die als Nahrungsergänzungsmittel verkauft werden. Die Quelle einer Chemikalie ist nicht entscheidend für ihre Wirkung. Doch Vertreter der Industrie wehrten sich auch gegen diesen Vorstoß und erreichten durch geschickte Lobbyarbeit das Gegenteil dessen, was das Gesetz erwirken sollte. Die FDA wurde nicht nur von der Kontrolle von Vitaminen ausgeschlossen, sondern auch von der von Mineralien, Pflanzenprodukten und Aminosäuren. Dabei wurde zum einen argumentiert, das Gesetz gefährde die Freiheit der Bürger, über die Einnahme der Produkte selbst zu entscheiden. Zum anderen wurde Ärzten und der Pharmaindustrie unterstellt, sie wollten aus Sorge um ihre Einnahmen verhindern, dass Menschen sich mit Nahrungsergänzungsmitteln gesund halten.
–> Einleitung
Mythos vom Heilsbringer
Bis heute konnten Vitamine sich ihren Ruf als gesundheitliche Alleskönner bewahren. Und obwohl es sich um ganz profane Industrieprodukte handelt, werden sie von einer Seite hochgelobt, von der man das eigentlich nicht erwarten würde. Vertreter „alternativmedizinischer“, also nicht in der Realität verhafteter, Ideen sind große Vitaminfans. So überrascht es nicht, dass jeglicher Kritik an Vitaminen von dieser Seite mit Furor begegnet wird. Der Kopp-Verlag, unter anderem bekannt für braunesoterische Veröffentlichungen (z.B. des antisemitische Ideen verbreitenden Jan von Helsing), sieht die Pharmaindustrie als Drahtzieher hinter Studien, welche die positive Wirkung von Vitaminen bezweifeln. Dabei wird der Fakt ignoriert, dass man die Hersteller von Vitaminen und Medikamenten nicht unbedingt unterscheiden kann. Aber im Ignorieren von Fakten ist die „Alternativszene“ ja geübt.
Für Vitamin E konnte keine positive Wirkung auf den Trainingseffekt nachgewiesen werden (Garalnabi et al. 2012). 2008 wurde in einer Studie der Einfluss von Antioxidantien auf den Effekt von Ausdauertraining untersucht. Mit dabei: Vitamin C, Wunderwaffe gegen alles. Die Studie war klein und relativ kurz und könnte sicher wiederholt werden. Das Ergebnis erbrachte auf jeden Fall interessante Hinweise. Vitamin C, der sanfte Booster aus der Natur, machte den Effekt von Ausdauertraining zunichte! Anstatt den Sportler zu beschleunigen, wurde er gebremst.
Der Homo Sapiens ist auf die Zufuhr von Vitaminen angewiesen, soviel ist sicher. Die benötigten Mengen sind jedoch gering, und wer sich nicht vollkommen unvernünftig ernährt, wird in unseren Breiten kaum einen Mangel erleiden. Zumindest keinen, der klinische Effekte zeigt. Dennoch werden wohl viele Heilpraktiker und geschäftstüchtige Mediziner einen Mangel an bestimmten Vitaminen in diversen Körperflüssigkeiten „feststellen“ und „beseitigen“ können. Ob der einzelne Patient davon profitiert, ist äußerst fragwürdig. Denn so viel scheint mittlerweile klar: Ist der Bedarf gedeckt, wird durch weitere Zufuhr keine Verbesserung mehr erreicht. Und wenn durch eine mangelhafte Ernährung der Bedarf nicht gedeckt ist, so scheint man diesen Mangel nur bei wenigen Vitaminen durch die Zufuhr in Form von Nahrungsergänzungsmitteln ausgleichen zu können. Mit dem magischen Image der Vitamine werden wir wahrscheinlich noch eine Weile leben müssen. Wir selbst können derweil jedoch ganz entspannt an den Pillendöschen vorbei gehen und müssen aus unserem Urin kein teures Abwasser machen.
–> Einleitung
Vitamin D
Vitamin D ist eigentlich kein Vitamin sondern ein Hormon, ein Steroidhormon. Calcitriol wird im Körper gebildet, wenn genug Sonnenlicht vorhanden ist (Horn 2012). Dabei handelt es sich um die biologisch aktive Form von Cholecalciferol, wie Vitamin D eigentlich heißt. Die Biosynthese startet mit Cholesterin in der Leber und macht dann Halt in der Haut, wo zur Bildung einer ersten Vorstufe die UV-Strahlung aus dem Sonnenlicht benötigt wird. Von dort gelangt eine weitere Vorstufe, gebunden an ein spezielles Protein, über das Blut wieder zur Leber und am Schluss in die Niere, wo es unter Einfluss eines anderen Hormons (Parathormon) fertig gestellt wird. Bis vor einigen Jahren war dies noch nicht bekannt, der Name Vitamin D ist bis heute geblieben. Calcitrol erhöht u.a. die Calciumaufnahme im Darm, hat jedoch auch Einfluss auf das Immunsystem. „Vitamin D“ hat von den im Artikel besprochenen Substanzen zum aktuellen Zeitpunkt die beste Evidenz für eine positive Wirkung. Allerdings sind die Ergebnisse noch relativ neu und es mehren sich Hinweise, dass die Zufuhr von Calcitrol ohne Mangel keinen Vorteil bringt. In The Lancet erschien erst Ende Januar 2014 ein Review mit dem Ergebnis, dass Vitamin D, abgesehen von der Knochenfestigkeit bei alten Menschen, keinen gesundheitlichen Vorteil bringt (Autier et al. 2014). Niemand würde ohne guten Grund ein Hormon zu sich nehmen, diese Faustregel lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt auch auf Calcitrol übertragen.
Vitamin B1
Vitamin B1 spielt eine wichtige Rolle im Energiestoffwechsel. Vor allem Zellen des zentralen Nervensystems sind anfällig für einen Mangel von Vitamin B1. Symptome sind Appetitmangel, Müdigkeit, neurologische Störungen und Muskelabbau. Beriberi (singhalesisch: „große Schwäche“) kommt zwar in Industriestaaten kaum noch vor, doch Menschen, die chronisch zuviel Alkohol trinken, können durch Mangelernährung einen Vitamin-B1-Mangel mit entsprechenden Symptomen entwickeln.
Antioxidantien
Die Vitamine E und C gehören, zusammen mit Beta-Carotin, zu den Antioxidantien. Antioxidantien zeichnen sich dadurch aus, dass sie leichter oxidiert werden als die sie umgebenden Moleküle. Aus diesem Grund wird ihnen eine Schutzwirkung gegenüber freien Radikalen zugeschrieben. Freie Radikale sind Substanzen, die andere Moleküle leicht oxidieren. In der Zelle kann so Schaden angerichtet werden. Freie Radikale werden in bestimmten Zellorganellen (Lysosomen) genutzt, um zum Beispiel Mikroorganismen auszuschalten. Freie Radikale entstehen auch im Rahmen der Zellatmung und werden durch verschiedene chemische Prozesse kontrolliert, weshalb sie keinen Schaden anrichten. Der großzügige Einsatz von Antioxidantien zum Schutz vor Freien Radikalen wird noch immer oft propagiert, obwohl neuere Forschungen ein differenziertes Bild dieser Substanzen zeigen.
Freie Radikale
Freie Radikale nennt man Moleküle, die ein „freies“, also nicht gebundenes Elektron haben. Ungebundene Elektronen haben die Eigenschaft, sich ein weiteres Elektron zu „suchen“, mit dem sie eine Bindung eingehen können. Freie Radikale entstehen physiologisch („normal“) in vielen Prozessen des Zelllebens, unter anderem beim Energiestoffwechsel. In der Regel gibt Prozesse, die diese Radikale davon abhalten Schaden in der Zelle anzurichten. Dieser Schaden kann entstehen, wenn das ungebundene Elektron ein Elektron aus einem anderen, wichtigen Molekül bindet und das Molekül dadurch so verändert, dass es seine Funktion nicht mehr erfüllen kann. Antioxidantien sind Substanzen, die eine Bindung mit so einem ungebundenen Elektron eingehen können und das freie Radikal so unschädlich machen. Weil freie Radikale als „schlecht“ gelten, gelten Antioxidantien als „gut“. Soweit die Theorie.
Seit den 1950er Jahren nahm man an, dass freie Radikale aufgrund ihrer schädlichen Eigenschaften eine Rolle bei der Zellalterung spielen. Jedoch spricht einiges gegen diese Hypothese. Für einen Modellorganismus der Altersforschung, den Fadenwurm (C. elegans), konnte gezeigt werden, dass eine erhöhte Konzentration von freien Radikalen das Leben der Würmer verlängert. Es sieht also so aus, als beruhe die Hypothese zur Nützlichkeit von Antioxidantien auf einer falschen Grundannahme.
–> Einleitung
- Horn, F. (2012): Biochemie des Menschen. Thieme, 5.Auflage
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Ein Gedanke zu “Vitamine – Missverstandener Nutzen”